Biografische Skizzen

Aus Anlass des 100. Geburtstages von Paul Huber am 17. Februar 2018 ist eine umfangreiche Publikation unter dem Titel „Paul Huber – der Komponist und sein Werk“ erschienen.

Die 200-seitige Publikation umfasst eine reich bebilderte Biografie des Komponisten, verfasst von Hanspeter Spörri sowie das Gesamtwerkverzeichnis von Paul Huber, herausgegeben von Dr. Bernhard Hangartner und Dr. Eva Martina Hanke.

Buchbestellungen sind zu richten an:

VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen
Marktgasse 5
CH-9000 St. Gallen
www.vgs-sg.ch; info@vgs-sg.ch

VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen,
2018. 233 S. : Ill. ;
16,5 x 24,5 cm ; Hardcover.

(ISBN 978-3-7291-1167-7.)

CHF / EUR 29.50 (+ Versandkosten)

Auszüge aus dem Abschnitt „Biografische Skizzen“ von Hanspeter Spörri:

 

erschienen in „Paul Huber – der Komponist und sein Werk“, 2018, bei Verlagsgenossenschaft St. Gallen (VGS).

 

Sinnierend mit einer Zigarette

Ein Vormittag im Jahr 1970. Paul Huber, damals in den 50ern, verlässt das Einfamilienhaus an der Goethestrasse. Noch unter der Tür entnimmt er seiner Packung Turmac Filtre – «Particulièrement fine et aromatique» – eine Zigarette. Er zündet sie erst beim Gartentor an, wandert dann, Rauchwölklein produzierend und sinnierend, die Strasse entlang. Manche Nachbarn und Anwohner der Goethestrasse kennen den Herrn mit Künstlermähne und Fliege nur so, mit Zigarette – obwohl er höchstens zwei bis drei Stück pro Tag raucht – oder pafft. Den Qualm entlässt er in kurzen, etwas hastigen Stössen, ohne ihn je zu inhalieren. Das Rauchen aber verhilft ihm seit seiner Jugend zu kostbaren Momenten der Ruhe oder der Zweisamkeit.

Die Zigarettenmarke passt zu Paul Huber. Turmac – das Kürzel für «Türkisch-Mazedonische Tabakgesellschaft» – war eine pointiert katholische Firma. An kirchlichen Feiertagen blieb der Betrieb in Zürich-Seebach geschlossen. Die Geschäftsleitung verfolgte laut dem Chronisten der Ortsgeschichtlichen Sammlung Seebach[1] einen paternalistisch-sozialen Führungsstil. Die Angestellten waren durch die Firma gegen Krankheit und Unfall versichert und erhielten Familienzulagen. Sie hatten schon 1920 eine bescheidene Pensionskasse. Patron Robert Burrus verkörperte die katholische Soziallehre in Person. 1972 stellt die Firma Turmac die Produktion ein, Paul Huber wechselte zu Marlboro, der Marke mit dem Cowboy-Image, das auf den ersten Blick so gar nicht zu Paul Huber zu passen scheint – eines der vielen kleinen und grossen Rätsel im Leben dieses Mannes, der einen über die Musik an seiner inneren Bewegung und Erschütterung teilhaben lässt, einem aber kaum je mit Worten Aufschluss gibt über seine Gedanken und Gefühle, seine Hochs und Tiefs.

Zeit seines Lebens hing Paul Huber einem «fröhlichen Katholizismus» an, einem mit Selbstverständlichkeit praktizierten Glauben, einer auch die soziale Dimension erfassenden Konfession. Kirchlichen Pflichten kam Paul Huber als Jugendlicher fast klaglos nach. Auch später wirkte seine Religiosität auf Aussenstehende nicht angestrengt oder dogmatisch, sondern tolerant, beschwingt und zwanglos.

Was ihm durch den Kopf geht, während er die Goethestrasse entlang wandert, können wir nur vermuten. Vielleicht denkt er über eine gerade entstehende Partitur nach. Oder es kommen ihm seine Schülerinnen und Schüler in den Sinn. Die musisch Veranlagten unter ihnen vermag er zu begeistern, und er beeinflusst manchen Lebensweg.

Oder er denkt über sein eigenes Leben nach, über die Fügungen, die ihn, den Bauernsohn, zum bedeutenden Komponisten und geschätzten Musiklehrer gemacht haben. Es ist möglich, gar wahrscheinlich, dass Paul Huber, wenn er alleine zu Fuss zur Arbeit geht, in Gedanken ab und zu zurückschweift in die Tage seiner Kindheit und Jugend, zum Bauernhof im Weiler Thalbach bei Kirchberg, zu seinen leiblichen Eltern und zu seinen Pflegeeltern, die den verwaisten zehnjährigen Paul wie ein eigenes Kind umsorgt, gefördert und auf seinem Weg zur Musik begleitet hatten.

Das Unglück – und ein unwahrscheinliches Glück

Interviews und Portraits, in denen Paul Huber sich über den Schmerz und das Glück seiner Kindheit äussert, vermitteln den Eindruck, er ringe mit etwas Unaussprechlichem. Das Erlebte und Erlittene schildert er in knappen und immer ähnlichen Worten und geht kaum in die Details. Die Gesprächspartner lassen es dabei bewenden, sind rücksichtsvoll, fragen kaum nach. Das Formulierbare hat der Amriswiler Schriftsteller, Intellektuelle und Primarlehrer Dino Larese in einem 1959 verfassten Portrait notiert: (…)in der freien Zeit muss der Bauernbub mithelfen in Hof und Stall. Er ist aber viel krank, ein schwächliches, bleiches Kind, und der Tod steht manchmal hauchnah an seinem Bett.

Da greift das Schicksal hart in die grosse Familie hinein. Mutter und Vater sterben im Jahre 1928, kurz hintereinander, an den Folgen einer Fleischvergiftung. Der Hof wurde verkauft, die Kinder kamen zu Verwandten oder Bekannten als Pflegekinder. Der zehnjährige Paul Huber eignete sich kaum als Hilfe für einen Bauernhof; da hatte er das unwahrscheinliche Glück, in die kinderlos gebliebene Familie des Kirchberger Bankverwalters Alfons und seiner Frau Hedwig Stolz-Elser aufgenommen zu werden, die ihn wie ihr eigenes Kind hielten, ihm alle Liebe, jede Förderung zukommen liessen und die er mit der Dankbarkeit eines guten Sohnes umgibt.[2]

 

Frau Musika: Auf Schultern getragen

Begegnungen waren für Paul Huber immer wieder entscheidend, so auch jene mit dem Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Historiker Georg Thürer (1908 – 2000). Dieser war von 1940 bis 1978 an der Hochschule St.Gallen (HSG, heute Universität St.Gallen) Professor für deutsche Sprache und Literatur und für Schweizer Geschichte gewesen. Er hatte den Text für das Festspiel «Frau Musika» verfasst, das am Eidgenössischen Musikfest 1948 in St.Gallen aufgeführt werden sollte. Darin versah er die Schöpfungsgeschichte mit dem Zusatz, dass Gott am siebenten Tage nicht geruht, sondern die Musik ins Leben gerufen habe. Wie nun die Gestalt der «Frau Musika» Mönche und Minnesänger, Bürger und Bauern inspirierte, zeigte die Dichtung vom «klingenden Jahrtausend auf, und ein bewährter Komponist sagte die Vertonung zu. So erinnerte sich Georg Thürer später[3]: Woche für Woche versprach er Notenblätter, die jedoch nie erschienen. Man habe es mit der Angst zu tun bekommen, als ein halbes Jahr vor dem Fest noch kein Ton des Festspiels im Hörfeld gewesen sei und sich wohl oder übel nach einem anderen Komponisten umgesehen. In einem Raume, in welchem in St.Gallen einst Franz Liszt und Richard Wagner ihr erstes gemeinsames Konzert geboten hatten, fiel uns alsobald ein junger Mann auf – Paul Huber –, der durch seine Werkproben überzeugte und bereit war zum Abenteuer, in wenigen Monaten ein grosses Werk zu schaffen, flugs anzutreten und auch den Dirigentenstab zu übernehmen. Und er löste seine Aufgabe dergestalt gut, dass ihn schliesslich Sänger und Musiker auf den Schultern durch die zujubelnde Festhalle trugen, was bei uns nüchternen Ostschweizern etwas heissen will.

Nicht zuletzt mit dieser begeisternden Musik, so schilderte es Markus Kaiser, der frühere Archivar im Staatsarchiv, habe Paul Huber den Durchbruch geschafft, und als der Erziehungsrat drei Jahre später unseren Komponisten zum Musiklehrer an die Kantonsschule wählte, wusste er, dass diese Wahl keine Fehlbesetzung sein würde. Für Paul Huber ist es die Lebensstelle geworden[4]

 

Das geregelte Leben

Als Pädagoge und Musikerzieher wusste Paul Huber, dass Wiederholungen und Rituale wichtig sind für Kinder und Jugendliche. Sie geben ihm Zeit seines Lebens auch selbst Halt und Geborgenheit, schaffen Ordnung und Orientierung, erleichtern das Lernen und die Konzentration. Auch in der Familie Huber waren kleine und grosse Rituale, tägliche, wöchentliche, jährliche Wiederholungen von Bedeutung.

Paul Huber steht morgens als erster auf, geht als erster ins Bad – die tägliche Nassrasur benötigt Zeit. Er weckt dann die Kinder: Gabriel, Roswitha, Christoph, bereitet für die ganze Familie das Frühstück vor. Häufig verlässt er schon um sieben Uhr das Haus – je nach Stundenplan. Immer geht er zu Fuss, nie fährt er mit dem Auto zur Kantonsschule, nie mit Bus oder Fahrrad. Und immer nimmt er den selben Weg.

Hedi bereitet das Mittagessen zu. Meistens ist die ganze Familie am Tisch versammelt. Die Gespräche drehen sich um Alltägliches und um Musik. Selten um politische Ereignisse und Vorgänge, die Paul Huber in der Regel zurückhaltend, vorsichtig und skeptisch beurteilt. Nach dem Essen macht er einen kurzen Mittagsschlaf, dann nimmt er wieder den Weg zur Kantonsschule unter die Füsse oder macht mit Gattin Hedi einen kurzen Spaziergang nach Rotmonten. Hubers sind Spaziergänger, keine Wanderer. Paul trägt immer Stadtkleider, auch an Wochenenden oder Mittwochnachmittags, wenn der Spaziergang ausnahmsweise einmal länger dauert, beispielsweise von Bühler über den Saul nach Teufen ins Café Spörri führt.

Anfänglich wird in der Familie auch gemeinsam musiziert. Einige Werke hat Paul Huber eigens dafür komponiert. Tochter Roswitha erinnert sich an das Lunkhofer Menuett oder an ein Stück, das Paul Huber für ihre Matura geschrieben hat. An Weihnachten singt man selbstverständlich zusammen. Und regelmässig finden Familientreffen bei den Grosseltern Gähwiler statt, etwa am 25. Dezember oder an Silvester. Der Jahreswechsel wird in jener Zeit noch eher besinnlich begangen. Um Mitternacht findet sich die Familie bei der Stadtkirche Wil ein, um dem Geläute zu lauschen.

Wie, wann und wo komponiert Paul Huber? Er warte nicht auf gute Stimmungen, sagte er der Maturandin Natalie Strässle im Jahr 1983:[5] Manchmal muss ich mich zwingen. Manchmal muss ich bei Sonnenschein den Laden schliessen, das Licht anmachen und denken es sei Nacht. Dann steige er in seinen «Hades», wie er sein Arbeitszimmer nennt, sei nicht mehr erreichbar. Wenn er täglich eine Stunde spazieren gehe, atme er die Natur ein, lasse ihre Schönheiten und Eigenarten in sich hinein sickern, wie ein Boden das Regenwasser aufsaugt. Seine Kräfte hole er wie ein Baum die Säfte aus dem Boden, aus der Natur, und lässt sie in sich ruhen, bis sie sich zu Tönen und Melodien umgesetzt haben: Manchmal bekomme ich eine panische Angst, keine Ideen mehr zu haben, manchmal kann ich tagelang nichts Rechtes aufs Papier bringen… Dann muss man ganz klein und demütig werden und warten, bis dann doch endlich der passende Akkord das Ganze weiterführt.

 

Trost der Verheissung

Paul Huber blieb auch in fortgeschrittenem Alter aktiv und kreativ, arbeitete weiter an neuen Werken und verfasste Bearbeitungen. Allerdings mehrten sich gesundheitliche Beschwerden. Nach einer Kulturreise in den süddeutschen Raum, die ihn stark erschöpft hatte, wurde bei ihm am 4. Mai 2000 eine Krebserkrankung diagnostiziert. Die Uraufführung seines «Hymnus 2000» für drei Orgeln am folgenden Samstag in der Kathedrale St.Gallen fand in seiner Abwesenheit statt. Mehrfach musste er sich in Spitalpflege begeben. Den 83. Geburtstag beging er zu Hause an der Goethestrasse zusammen mit engsten Freunden. Eine Woche später, am 25. Februar 2001, starb er frühmorgens im Kantonsspital.

Der Trauergottesdienst[6] fand am 1. März in der bis auf den letzten Platz besetzten Kathedrale statt. Eingeleitet wurde er mit der «Appenzeller Fantasie» von Paul Huber: «Wie baas isch mer do obe». Danach erklangen weitere Interpretationen von Werken, die den Reichtum und die Breite seines Schaffens zeigten. Alois Koch, Direktor der Musikakademie Luzern, sagte in seiner Gedenkrede, Paul Huber habe Musik geschaffen, die bleibe. Sie zeichne sich aus durch das saubere kompositorische Handwerk, durch die ehrliche Haltung ihres Schöpfers und durch die Dienstfertigkeit, mit welcher der Komponist auf hunderterlei Anfragen eingegangen sei. Josef Osterwalder, der im St.Galler Tagblatt über die Trauerfeier berichtete, hielt fest, dass Paul Hubers Werk ein ständig neuer Versuch gewesen sei, auf die Nöte der Zeit mit dem Trost der Verheissung zu antworten.

Gattin Hedi überlebte ihren Mann um mehr als 8 Jahre. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Ordnen des Archivs und widmete sich der Familie.

Zusammen mit Sohn Gabriel besuchte sie am 5. April 2009 den 9-Uhr-Gottesdienst im Dom. Dabei wurde Paul Hubers Messe «Gib uns Frieden» aufgeführt. Auf dem Nachhauseweg vom anschliessenden Mittagessen erlitt sie einen Zusammenbruch. Im Kantonsspital St.Gallen wurde eine Herzschwäche festgestellt. Ihr Zustand verbesserte sich nicht mehr. Sie starb am späten Abend des 6. April.

 

[1] www.ogs-seebach.ch, abgerufen am 28. Januar 2017

[2] In: Dino Larese, Ostschweizer Begegnungen, Verlag Huber, Frauenfeld 1978, Seiten 49-61, am Textende die Jahreszahl 1959.

[3] Georg Thürer, Laudatio auf Paul Huber bei der Verleihung des Oberrheinischen Kulturpreises, Basel, 1989.

 

[4] Markus Kaiser: Rede zu Paul Hubers 80. Geburtstag,

[5] Wie Anmerkung 3

[6] St.Galler Tagblatt, 2. März 2001, «Abschied von einer Epoche», Artikel von Josef Osterwalder